Es war ein bisschen bizarr, was sich da kurz vor Anpfiff im Lusail Iconic Stadium in Doha abspielte. Während der portugiesischen Hymne interessierten sich Fotografen und Kameraleute nicht etwa für die Startelf, sondern drängelten sich in Fünferreihen vor die Bank Portugals, um ihre Linsen bestmöglich auf einen Ersatzspieler zu halten.
Cristiano Ronaldo machte dabei gute Miene zum bösen Spiel. Er schmetterte die Hymne "A Portuguesa" inbrünstig, so hatte es zumindest den Anschein.
Es ist den (Bewegt-)Bildreportern nicht zu verdenken, dass sie die eigentlichen Hauptdarsteller links liegen ließen. Der große CR7 im gelben Stellvertreter-Leibchen lässt sich eben besser verkaufen als Pepe mit Kapitänsbinde.
Erstmals seit der EM 2008 und 31 Spielen in Folge stand Ronaldo in einem K.o.-Spiel der Portugiesen bei einem großen Turnier nicht in der Anfangself. Damals war er im bedeutungslosen letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz nicht zum Einsatz gekommen.
Ein Fotografenmeer hat es während der Hymne auf Ersatzmann Ronaldo abgesehen
Fotocredit: Imago
Cristiano Ronaldo: WM 2022 in Katar sollte Abhilfe schaffen
Was vor 14 Jahren nur eine Randnotiz war, bedeutet im Dezember 2022 eine Zäsur. Es ist der (vorläufige) Tiefpunkt des bemerkenswerten Absturzes von Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro.
Im Sommer putzte Ronaldos Berater Jorge Mendes Klinken in ganz Europa, um seinen wechselwilligen Klienten irgendwo unterzubringen. Vergeblich, Ronaldo musste bei Manchester United bleiben. Dort ist er seit Monaten nur noch Ergänzungsspieler und provozierte seinen Rauswurf mit einem skandalösen TV-Interview, in dem er alles und jeden kritisierte, nur nicht sich selbst.
Das Turnier in Katar sollte Abhilfe schaffen. Bei seiner voraussichtlich letzten WM-Teilnahme wollte Ronaldo noch einmal auf der ganz großen Bühne glänzen. Der WM-Pokal fehlt dem 37-Jährigen noch in seiner sagenhaften Trophäen-Sammlung und nebenbei ging es für Ronaldo darum, sich für einen neuen Verein zu empfehlen. Er dürfte damit gerechnet haben, von United vor die Tür gesetzt zu werden nach allem, was er dem Klub in seiner Tirade mit Piers Morgan vor den Latz geknallt hat.
"Um Gottes Willen": Trainer Santos flieht vor Ronaldo-Fragen
Cristiano Ronaldo aus "taktischen Gründen" nicht in der Startelf
Doch die WM ist bislang eine einzige Enttäuschung für Ronaldo. Im ersten Spiel trug er sich noch in die Torschützenliste ein; als erster Spieler überhaupt traf er bei fünf WM-Turnieren. Im zweiten Spiel reklamierte er einen Treffer von Bruno Fernandes für sich, obwohl er de facto weder mit der Stirn, noch mit der Augenbraue, noch mit den Haarspitzen am Ball war.
Zum Vorrunden-Kehraus gegen Südkorea durfte er spielen, obwohl Nationaltrainer Fernando Santos nahezu allen Stammspielern eine Verschnaufpause gönnte. Ronaldo leitete das erste Gegentor mit einem Rückenabpraller ein und schimpfte nach seiner Auswechslung vor sich hin.
Santos, der Ronaldo in all den Jahren als oberster Übungsleiter Portugals stets vehement gegen alle Widerstände verteidigte und ihn noch vor der WM in Katar gefühlt zum 1000. Mal als "besten Spieler der Welt" bezeichnete, ärgerte sich öffentlich über Ronaldos Reaktion auf die Herausnahme. "Es hat mir nicht gefallen. Es hat mir überhaupt nicht gefallen", sagte er.
Offiziell begründete Santos Ronaldos Degradierung zum Ersatzspieler im ersten K.o.-Spiel der Portugiesen mit "taktischen Gründen". Ob auch Ronaldos Fluchen dabei eine Rolle gespielt hat, weiß nur Santos selbst. Die Tragweite seiner Maßnahme bleibt in jedem Fall enorm.
Matchwinner Ramos verteidigt Ronaldo: "Er ist unser Kapitän"
Portugal ohne Cristiano Ronaldo eine bessere Mannschaft
Auf den Tag genau zwei Wochen, nachdem er von Manchester United verstoßen wurde, hat Portugal ihn fallen gelassen. Die Tatsache, dass Ronaldo Platz machen musste für einen 21-Jährigen, bei dem Mitte November hinter der Anzahl seiner Länderspiele noch die 0 stand, setzt Ronaldos Demütigung die Krone auf.
"Als dies bei ManUnited geschah, wurde vermutet, dass Trainer Erik Ten Hag versucht, seine Autorität zu untergraben. Aber der portugiesische Trainer hat seit einigen Jahren eine unglaubliche Beziehung zu ihm. Das sagt viel aus über den Status, den Ronaldo mittlerweile auch in seinem Heimatland erreicht hat", sagte Englands WM-Experte Gary Neville bei "ITV".
- Dreierpack-Gala gegen die Schweiz: Das ist Ronaldo-Vertreter Ramos
Ronaldo müsse bereit sein, die Wahrheit zu akzeptieren. "Und die Wahrheit ist, dass die Teams besser ohne ihn zurechtkommen", so Neville.
Bastian Schweinsteiger fiel bei der 6:1-Gala gegen die Schweiz auf, dass Ronaldos Ersatzmann Gonçalo Ramos abgesehen von seinen drei Treffern einen hohen Wert für die Statik des Spiels der Portugiesen hat. "Ramos hat auch defensiv gut gearbeitet. Die Mannschaft hat sehr kompakt gegen den Ball gearbeitet", sagte Schweinsteiger in der "ARD".
Auch "Magenta TV"-Experte Michael Ballack meinte, dass "der Wechsel der Mannschaft gut getan hat. Sie hat mit mehr Flexibilität gespielt." Für Ronaldo sei es dagegen hart, so Ballack, sich mit der Realität anzufreunden, dass er nun auch in der Nationalmannschaft keine tragende Rolle spielt.
Cristiano Ronaldo: Nächster "Eklat" am Tag danach
Ronaldos langfristiges Vermächtnis als Fußballer ist gesichert. Er hat das Spiel fast zwei Jahrzehnte lang geprägt und mitunter revolutioniert. Doch seine Zeit als unverzichtbarer Teil einer Mannschaft ist vorbei.
"Natürlich kann diese WM für Ronaldo noch ein Happy End parat haben. Es würde mich nicht wundern, wenn er im nächsten Spiel als Joker Portugal ins Halbfinale schießt und mit neun WM-Toren Eusebio einholt. Aber dieses Herumtramplen, diese Gereiztheit und das Schmollen nach einer Auswechslung werfen ein schlechtes Bild auf ihn", sagte Gary Neville.
Das Denkmal, das sich Ronaldo selbst gesetzt hat, bröckelt. Es geht für Ronaldo um den schwierigen Spagat, seine Rolle als Ersatzmann zu akzeptieren, sich gleichzeitig als Kapitän der Portugiesen in den Dienst der Mannschaft zu stellen und mittelfristig in Würde abzutreten.
Einen ersten Schritt in die richtige Richtung unternahm Ronaldo nach dem Schweiz-Spiel. Auf Instagram postete er eine Liebeserklärung an seine Kollegen: "Perfekte Leistung einer Mannschaft voller Talent und Jugend. Ein unglaublicher Tag für Portugal mit einem historischen Ergebnis im größten Wettbewerb des Weltfußballs. Der Traum lebt! Bis zum Ende! Auf geht's Portugal!"
Lang währte Ronaldos Zuvorkommenheit allerdings nicht. Laut der spanischen Zeitung "Marca" verweigerte er am Mittwoch das Training mit den Ersatzspielern und hielt sich stattdessen mit den Startelfkickern im Fitnessbereich auf.
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